Tränen während der Eingewöhnung -

ein Grund zur Sorge?

ein Beitrag von Judith Sinnhuber


Aus fachlicher Sicht kann ich diese Frage mit einem klaren Nein beantworten. Warum? Weil es für jedes Kind früher oder später Situationen im Kindergarten gibt, die es zum Weinen bringen: ein Sturz mit dem Laufrad; ein umgestürzter Turm aus Holzbausteinen; die beste Freundin, die heute mit wem anderen spielen möchte oder eben die Mama (oder eine andere nahe Bezugsperson), die sich morgens verabschiedet und das Kind für eine bestimmte Zeit in die Obhut von Menschen gibt, die beide (Bezugsperson und Kind) noch nicht sehr gut kennen. Schmerz, Traurigkeit oder auch Wut können wir nicht von den Kindern fernhalten. Was wir aber tun können, ist, dem Kind in diesem Moment zur Seite zu stehen.

 

Hier ein Beispiel aus dem Kindergarten-Alltag:

Iris ist zornig, nachdem Mama sich verabschiedet hat. Dieser Zorn wandelt sich schon nach wenigen Augenblicken in Traurigkeit. Iris weiß, dass ihre Mama jetzt gegangen ist und erst zur vereinbarten Zeit zurückkommen wird. Es macht also keinen Sinn, länger wütend zu sein, weil die Mama durch das Toben jetzt nicht umkehren wird. Warum weiß Iris das? Weil ihre Mama ihr angekündigt hat, dass sie sich heute erstmals an der Tür verabschieden wird und Iris dann wieder abholen wird, wenn Gartenzeit ist. Und, weil Iris ihre Mama während der bisherigen Eingewöhnungszeit ausnahmslos als verlässlich erlebt hat: Sie hat Iris die nächsten Schritte vorangekündigt und sie dann immer auch so durchgeführt. Daran konnte Iris sich orientieren - das schafft Sicherheit. Deshalb kann Iris jetzt einen gesunden Trauerprozess durchlaufen, in dem ihre Gefühle Platz haben, Ernst genommen werden, und die Traurigkeit letztendlich ausheilen wird.

Ich unterstütze sie dabei, indem ich Kontakt zu ihr aufnehme - behutsam und respektvoll. Ich wahre so viel Distanz und gebe so viel Nähe wie Iris braucht. Um das richtige Maß zu finden, achte ich auf ihre Körpersprache.


Iris wendet sich zur Tür, verweigert jeden Blickkontakt und zeigt mir damit deutlich: "Ich bin jetzt so traurig, ich kann mich gar nicht auf dich einlassen." Dass Iris den Gruppenraum nicht verlässt, zeigt mir: "Ich fühle mich hier sicher. Das ist ein guter Platz für mich, solange ich traurig bin."

Wichtig ist, in Kontakt zu bleiben, weil manche Kinder Unterstützung dabei brauchen, aus dem Traurigsein wieder herauszukommen. Ich spreche also ruhig mit Iris, beschreibe ihren Gemütszustand: "Ich sehe, du bist sehr traurig. Du weinst." Ich kommentiere aber auch das, was rund um uns geschieht: "Schau, da kommt der Severin. Er läuft gleich zu seinem Freund hin, weil sie Feuerwehrmann spielen wollen. Severin war am Anfang auch traurig, aber jetzt macht ihm der Kindergarten Spaß."


Nach einer Weile verändert sich Iris´ Gestik und Mimik. Sie ist mir zugewandt, vermeidet allerdings noch den Blickkontakt. Aber an ihren Augen erkenne ich, dass sie sich zunehmend für ihre Umgebung interessiert.


Jetzt lässt Iris körperliche Nähe zu, legt sogar ihre Hand auf mein Knie. Das Weinen hat schon vor geraumer Zeit aufgehört, doch die Trauer ist noch nicht gänzlich überwunden. Das wird wahrscheinlich noch einige Tage dauern.


Der gewohnte Tagesablauf gibt Iris Sicherheit, und wir sind weiterhin in gutem Kontakt.


Auch in der Fachliteratur finden sich Hinweise darauf, dass Weinen und Trennungsprotest durchaus positive Aspekte beinhalten:

  • "Kinder, die mit starkem Trennungsprotest reagieren, müssen nicht unbedingt am schlechtesten mit der Situation zurechtkommen. Denn gerade Kinder mit einer sicheren Bindung sind in der Lage, offen zu zeigen, dass sie mit der Trennung nicht einverstanden sind, da sie bereits erfahren haben, dass ihnen ihre Eltern in Stresssituationen zur Seite stehen und sie deshalb auch nicht allein gelassen werden wollen." (Joachim Bensel und Gabriele Haug-Schnabel 2008: Alltag, Bildung und Förderung in der Krippe in: Jörg Maywald und Bernhard Schön (Hrsg.): Krippen. Wie frühe Betreuung gelingt, S. 113)

 

  • "Kinder brauchen es, weinen zu dürfen. Weinen baut Stress ab, löst Kummer und Anspannung. Es führt so zu echter Entspannung, da die Gefühle nicht unterdrückt werden müssen. Erleben Kinder Erwachsene dabei, die ihnen liebevollen Halt durch ihre Anwesenheit geben, stärkt das ihr Vertrauen in andere und in sich. Dies gibt ihnen ihr körperliches und seelisches Gleichgewicht wieder." (Hedi Friedrich 2011: Bindung und Beziehung in den ersten drei Lebensjahren in: Norbert Neuß (Hrsg.): Grundwissen Krippenpädagogik, S.55)